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Julika Griem: Szenen des Lesens

Buchvorstellung

»Julika Griem: Szenen des Lesens. Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung«

(Rezensionsexemplar)

Buchcover von J. Griem: Szenendes Lesens - Foto von O. Fritz
Buchcover von J. Griem: Szenendes Lesens – Foto von O. Fritz

Lesen = Mensch-Buch-Interaktion

(O.F.) Hannover, 30. Dez. 2021: Das Lesen ist eine grundlegende Kulturtechnik, die das Zusammenleben der Menschen gravierend prägt. Ein jeder lernt diese Fähigkeit – mehr oder weniger – in der Schule. Geschriebene Texte von Autoren/Autorinnen zu lesen und zu verstehen: Eröffnet neue, ungeahnte Horizonte. Lesen, das ist: Genuss, Unterhaltung oder auch Bildung. Dabei ist das Lesen sowohl als individuelles als auch als kollektives Phänomen zu begreifen. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass kaum jemand in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit einen Gedanken daran verschwendet, was man über diese zentrale Fähigkeit weiß? Julika Griem hat dieses Manko erkannt und geht deshalb dem Lesen in ihren Essay: Szenen des Lesen nach.

Lesen eine soziale Tätigkeit

Was ist bekannt über das Lesen als soziale Praktik und was geschieht dabei? Welche Bedeutung hat das Lesen für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft? Was bewirkt das Lesen für das Individuum und die Gesellschaft? Wann und wo wird überhaupt gelesen? Wie wird dabei vorgegangen? Warum sollte man das Lesen als soziale Praktik überhaupt betrachten? Wer sich mit solchen Fragen beschäftigt, sollte die Mühe auf sich nehmen und den Essay der Kulturwissenschaftlerin Julika Griem lesen.

In ihrem soziologischen fundierten Essay: »Szenen des Lesens. Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung«, der 2021 im transcript Verlag erschien, beschäftigt sich die Professorin für anglistische Literaturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Leiterin des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen Julika Griem mit der Frage, was wir eigentlich über das Lesen als soziale Praxis wissen? Sie spürt dabei unter anderem den Fragen nach: In welchen Zusammenhängen man das Lesen überhaupt beobachten kann. Ob die Lektüre alleine oder in Gruppen erfolgt oder das Lese-Interesse auf neues oder bekanntes ausgerichtet ist. Worin liegt eigentlich die Lust am Lesen und für wen?

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Verwendete Quellen und Materialien

Als Materialbasis greift sie auf unterschiedliche Quellen und Materialien zurück. Dabei unternimmt sie unter anderem einen Selbstversuch mit Georges Simenons »Maigret«-Kriminalromanen. In dieser Beziehung lässt sich festhalten, dass kaum auf quantifizierbare Daten zurückgegriffen werden kann. Ihre Vorgehensweise zeichnet sich dadurch aus, dass sie Formen der Betrachtung und der Illustration verwendet, »die nicht allein jene etablierten Diskurse fortschreiben, mit denen das Lesen auf häufig vorhersehbare Weise expliziert wird.« (S. 10) Die mit diesem Essay verfolgte Absicht der Autorin liegt m. E. darin: Das Lesen als zwischenmenschliche Aktivität sowie die hiermit verknüpften Lese-Situationen (»Leseszenen«) beispielhaft herauszuarbeiten. Dabei berücksichtigt sie typische »Bewertungsroutinen«, die von ihr hinterfragt werden.

Aufbau und Inhalt des Essays

Der formale Aufbau des Essays sieht folgendermaßen aus:

1. Lesen lesen
2. Lesen beobachten
3. Lesen zeigen
4. Lesen lassen
5. Lesen erzählen
6. Lesen (ver-)lernen
7. Anmerkungen

Das erste Kapitel »Lesen lesen« dient der Einführung in den Gegenstand des Essays. Im zweiten Kapitel »Lesen beobachten« befasst sich die Autorin mit methodischen Problemen des Gegenstandes. Hier wird bereits deutlich, dass eine bloße quantitative Vorgehensweise schnell an ihre Grenzen stößt. Daran schließt das dritte Kapitel: »Lesen zeigen« an. An diesem Punkt thematisiert Griem beispielsweise Anleitungen zum Lesen. Im vierten Kapitel »Lesen lassen« geht die Autorin unter anderem auf die Arbeitsteilung durch Lesedienstleister ein, wie zum Beispiel: getAbstract oder Blinkist. Im folgenden fünften Kapitel »Lesen erzählen« beschreibt die Autorin die Art und Weise der Vermittlung von Bildungs- und Sozialisationszielen. Das abschließenden Kapitel »Lesen (ver-)lernen« skizziert Griem eine Art Prototyp universitärer Seminarveranstaltung. Dabei soll die Lust am Lesen genauso berücksichtigt werden wie die Untersuchung und Bewertung des Lesens als soziale Praxis. Abgerundet wird der Essay mit einem Anmerkungsapparat, der aus 190 Einträgen besteht.

Kritische Anmerkungen zum Essay

Die Autorin Julika Griem ist es als Kulturwissenschaftlerin gewohnt für ein akademisches Fachpublikum zu schreiben. Dies merkt man leider diesem Essay deutlich an. Wenn man sich bloßem aus allgemeinen Interesse mit dem Thema: »Lesen« beschäftigen möchte, dann hat man hier schlechte Karten. Ohne gewisse Vorkenntnisse über das Thema wird der Einstieg schwer. So hat es zumindest der Autor dieser Zeilen empfunden. Die verwendete Sprache ist anspruchsvoll, wie nicht anders zu erwarten von einer Akademikerin. Es stellt sich aber die Frage, weshalb so ein Essay, wenn er eine breite gesellschaftliche Öffentlichkeit erreichen und sogar etwas bewirken soll, so abgefasst ist? Ist die Tatsache immer noch nicht an die Schreibtische der Geistes- und Sozialwissenschaftler/-innen gedrungen, dass das Schreiben ein Service für die Leserschaft ist?

Wenn man beispielsweise die vier Kriterien des Hamburger Verständlichkeitsmodells zugrunde legt, dann sollte sich ein Text durch: 1.) Einfachheit, 2.) Kürze und Genauigkeit des Ausdrucks, 3.) klare Strukturierung und 4.) anregende Zusätze auszeichnen.

Blickt man unter diesen Gesichtspunkten auf den Essay, dann fällt auf, dass der Lesefluss nicht gefällig ist! Die Erläuterungen sind weder kurz, geschweige denn klar. Der Fließtext ist gespickt mit teilweise umständlichen Formulierungen, langen Sätzen und Absätzen sowie mit fremdsprachigen Zitaten. Gleichwohl ist ein klarer Aufbau des Essays vorhanden. Die unterschiedlichen Sinnabschnitte werden in prägnanten Kapitel- und Unterkapitelüberschriften gegliedert. Der sprachliche Ausdruck ist durch akademische Sprachkonventionen gefärbt. Dies mag dem interdisziplinären Diskurs durchaus förderlich sein. Aber: Das Verständnis des interessierten Laien erschweren.

Sprachliche Ausdruck ist ermüdend beim Lesen

Auch ist die sprachliche Verquickung (deutsch-englisch) im Fließtext lästig. Natürlich werden in wissenschaftlichen Arbeiten fremdsprachige Begriffe/Zitate eingearbeitet. Aber: Leserfreundlich sind diese nicht! Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass nicht jeder/jede gewohnt ist, dass fremdsprachige Passagen den Fließtext durchziehen. Dies kann den Lesefluss, je nach Sprachniveaus der Leserschaft, ungemein stören. Und das angemessene Verständnis der Inhalte erschweren. Hier wäre es durchaus hilfreich gewesen beim Lesen, wenn eine deutsche Übersetzung der fremdsprachigen Zitate im Anmerkungsapparat hinterlegt worden wäre. Anregende Zusätze in Form von Bildern, Grafiken oder Tabellen, die zum besseren Verständnis des Themas hätten beitragen können, sind nicht vorhanden. Auch fehlt ein sprachliches Lektorat. Abschließend lässt sich anmerken, dass die Schriftgröße des Fließtextes für mich eine Spur zu klein war. Dies sollte aber beim E-Book kein Problem sein. Das Buchcover ist angemessen. Fällt aber kaum ins Auge. Die Bindung, die Papierfärbung und die Papierqualität sind ausgezeichnet.

Kritische Anmerkung

Was ich vermisst habe, beim Lesen dieses Essays, ist eine geschlechtsneutrale Sprache im Sinne des Dudens. Dieser vorauseilende Gehorsam bezüglich des Genderschreib ist furchtbar. Und der Hinweis, dass männliche Leser inkludiert seien – findet sich erst auf Seite 115, Anmerkung 2. In den meisten Fällen findet sich solch ein Hinweis direkt auf den ersten Seiten einer Arbeit oder in der Einleitung!

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Fazit

Fassen wir zusammen: Julika Griem greift in ihrem Essay „Szenen des Lesens“ eine wichtige Frage auf, nämlich: Was wissen wir über das Lesen im zwischenmenschlichen Sinne? Sie spürt dabei unterschiedlichen Lese-Situationen (»Leseszenen«) nach. Verdeutlicht dabei, dass das Lesen eine soziale Praktik ist. Sie beschreibt und hinterfragt diese Leseszenen sowie die hiermit für gewöhnlich einhergehenden Bewertungsroutinen. Sie greift damit in bester soziologischer Weise eine menschliche Aktivität auf, die so alltäglich erscheint, dass sie kaum beachtet, geschweige denn hinterfragt wird!

Dieser anspruchsvolle Essay der Kulturwissenschaftlerin Julika Griem ist m. E. ungeeignet für den Laien. Gleichwohl ist diese Arbeit eine Fundgrube für Studierende der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Vor allem, wenn man sich mit dem vielschichtigen Phänomen des Lesens als zwischenmenschliche Aktivität im Rahmen einer schriftlichen Arbeit beschäftigen möchte. In dieser Beziehung sei auf das letzte Kapitel des Textes verwiesen.

Positiv
– Klarer Aufbau des Essays „Szenen des Lesens“
– Interessantes Thema, Fragen und Aussagen

Negativ
– Kleine Schrift
– Kein Register
– Kein Literaturverzeichnis
– Kein sprachliches Lektorat
– Keine Abbildung zur Veranschaulichung

Bibliographische Angaben
Julika Griem: Szenen des Lesens. Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung. Bielefeld: transcript Verlag 2021. 126 S. ISBN: 978-3-8376-5879-8. Preis: ca. 15,- EURO.

Bildnachweis: © Foto des Buches von O. Fritz

Hinweis:
Mein herzlicher Dank geht an den transcript Verlag in Bielefeld für die kostenfreie zur Verfügungsstellung des Leseexemplars.